Armut hat viele Gesichter. Für die, die keine Armut kennen, wird der Begriff jedoch meistens mit einem Mangel an weltlichen Gütern gleich gesetzt. Somit ist Armut von Land zu Land sehr unterschiedlich definiert. Wer in Berlin arm ist, kann in den Slums von Johannisburg immer noch als wohlhabend gelten. Was alle Armen gemeinsam haben, was überall weh tut, ist die völlige Ohnmacht angesichts der Ungerechtigkeit. Sie sind abhängig vom guten Willen derer, die haben und könnten, aber nicht immer wollen. Selbst, wenn sie ihre Rechte kennen, haben sie oft keine Resourcen, sie einzufordern. Was es bedeutet, arm zu sein – oder eben nicht – zeigt ein Jahr im Leben zweier Kinder.
Im Oktober 2011 wird Sabine* in München geboren. Im Geburtshaus ist alles vorbereitet für eine natürliche Geburt. Sollte es Komplikationen geben, würde die Mutter innerhalb von Minuten in das nächstgelegene Krankenhaus geliefert. Es ist eine schöne Geburt. Das Baby wird im warmen Wasser geboren und der Mutter sofort auf die Brust gelegt. Nur zum Wiegen wird sie einige Zeit später weggenommen; ansonsten sie liegt die ganze Zeit bei Mutter und Vater, bis drei Stunden später alle gemeinsam nach Hause fahren.
Eine Woche zuvor wird Manoel* geboren. In Belém, Brasilien. Seine Mutter war bereits am Freitag mit Wehen in das Krankenhaus von São Benedito* gefahren, drei Stunden mit dem Boot von ihrem Zuhause inmitten des amazonischen Regenwaldes und zwölf Stunden entfernt von der Landeshauptstadt Belém. Sie informiert den Arzt darüber, dass es bereits bei der Geburt ihrer Tochter große Probleme bei der Geburt gegeben hatte und sie einen Kaiserschnitt brauchen würde. Die Antwort des Arztes fällt ruppig aus. Sie habe das erste Kind natürlich geboren, sie würde auch das zweite normal gebären.
Nach zwei Tagen Wehen ist dann auch diesem Arzt klar, dass die Frau einen Kaiserschnitt brauchen würde. In S Benedito könnte man einen durchführen, trotzdem wird sie nach Belém ausgeflogen. Es ist bereits abzusehen, dass das Baby Sauerstoff brauchen würde. Die Mutter erreicht Belém am Montag; der dortige Arzt ist bereits informiert über die dringende Notwendigkeit eines Kaiserschnitts. Als die Patientin abends in der Klinik ankommt, ist jedoch Schichtwechsel. Der übernehmende Arzt blickt kurz auf die Mutter und meint lapidar, das ginge auch so.
Es geht auch so. Dienstag vormittag wird Manoel mit Ziehen und Zerren aus seiner Mutter gezogen. Er spürt seine Mutter nicht, er kann nicht trinken. Er verbringt seinen ersten Monat auf der Intensivstation am Sauerstoff. Und das ist erst der Anfang.
Als Sabine zwei Monate alt ist, fliegt sie mit ihren Eltern auf die Philippinen, wo ihre Mutter arbeitet. Entgegen der Sorge ihrer Eltern bekommt sie von dem langen Flug kaum etwas mit. Entweder sie schläft oder lacht oder wird gestillt. Auf den Philippinen wird sie von den Kolleginnen ihrer Mutter bewundert, betatscht, geknuddelt und herumgetragen. Der Mutter wird es machmal zu viel, aber Sabine erträgt es stoisch.
Manoel muss regelmäßig nach Belém. Untersuchungen, Arztbesuche und Physiotherapie sind notwendig. Jede Reise bedeutet zwölf Stunden auf einem Frachtschiff in der Hängematte. Es geht nur zweimal gut, dann hat er wieder eine Lungenentzündung. Antibiotika, Sauerstoff. Seine Mutter wacht am Bett. Im öffentlichen Gesundheitssystem Brasiliens ist nur ein Beobachter pro Patient erlaubt. Das bedeutet, dass Cauãs Mutter nicht essen geht, um das Baby nicht alleine in seinem Schmerz zu lassen. Sie schläft auf einem Stuhl. Der Vater bleibt mit der kleinen Tochter zurück im Wald. Dort sagen sie, der kleine Manoel erschrecke sich sehr, wenn andere Menschen an ihn treten. Nach den vielen Wochen in der Einsamkeit der Intensivstation war er nicht vorbereitet auf die lebhafte Zuneigung der Familie, die so lange auf ihn warten musste.
Juli 2012. Sabine muss wieder zur Impfung und ihrer Mutter dreht es schon in der Früh den Magen um bei dem Gedanken an das Kind, das sie weinend anschauen wird und nicht versteht, warum man ihr weh tut. Aber es ist für ihr Bestes und nach zehn Minuten ist sie wieder versöhnt. In der Folge geht die Mutter ein paar Mal zur Kinderärztin, einfach nur, um zu spielen, damit Sabine ihre Angst verliert.
Manoel hat ein paar Wochen lang Ruhe. Hausmittel helfen ihm, besser zu atmen und die Liebe seiner Großfamilie lassen ihn etwas entspannen. Er könne wohl doch etwas sehen und greife auch schon. Lachen würde er aber nie, berichten die Verwandten. Dann kommt wieder eine Reise. Und wieder eine Lungenentzündung. Dieses Mal kommt er nicht einmal bis zum Krankenhaus. Lediglich ein Erste-Hilfe-Zentrum nimmt ihn auf. Die Mutter sitzt am Bettchen und weint, wenn sie sieht, wie ihm die kleinen Ärmchen zerstochen werden auf der Suche nach einer Vene, die noch anzuzapfen geht. Nach zwei Wochen wird er entlassen. Noch am Abend bekommt er wieder Fieber, doch es ist Freitag und die Ärzte sind ins Wochenende gegangen. Die Mutter bleibt bei Freunden im Haus in Belém. Der Vater ist im Wald und arbeitet, um einen privaten Arztbesuch bezahlen zu können.
Oktober 2012. Sabine feiert ihren eigenen Geburtstag mit einem Ständchen am Morgen. Die Hebammen vom Geburtshaus schicken eine hübsche kleine Karte mit Grüßen. Sabine beginnt bereits zu Laufen und hat gelernt, die gelegentlichen Ohrfeigen der Katze hinzunehmen, ohne zu weinen. Die Mutter ist stolz auf ihre tapfere kleine Tochter.
In Brasilien liegt der kleine Manoel in den Armen seiner Mutter. Er hat wieder Fieber. Lungenentzündung. Hände und Füße sind kalt, der Bauch ist heiß. Manoel weint nicht mehr, sagt die Mutter. Er liegt nur noch da und wartet.
In seiner Wut hatte ihr Schwager auf Facebook über die Ignoranz und Grausamkeit der Ärzte geschrieben. Haben die Armen keine Rechte, fragt er. Wie kann eine Gesellschaft so mit ihren Kindern umgehen? Brasilien hat 2010 mit 52% erstmals mehr Kaiserschnitte als normale Geburten, bei Privatversicherten ist die Rate bei 82%[1]. Rund 1,700 Menschen liegen jeden Tag auf dem OP Tisch, um sich einer Schönheitsoperation zu unterziehen.[2] Wie kann ein Land, das eine der höchsten Raten an Schönheitsoperationen und geplanten Kaiserschnitten hat, seinen ärmsten Bürgern eine anständige medizinische Versorgung verweigern und eine Familie zerstören?
Der Facebookeintrag macht die Runden. Nun sind auch Lokalpolitiker empört und aufgebracht. Die Mutter erhält prompt einen Anruf. Sie solle aufhören, solche Geschichten zu verbreiten, das werfe ein schlechtes Licht auf den Bürgermeister. Das Kind sei so, weil Gott es so wolle und im übrigen möge sie sich erinnern, von wem sie als Lehrerin ihr Gehalt bezieht. Spielt es da noch eine Rolle, dass die Frau seit Monaten kein Gehalt mehr bezogen hat?
Heute war die Mutter bei vier Krankenhäusern, keines will Manoel aufnehmen. Die Beine der Mutter sind geschwollen vom Schlafen auf harten Stühlen. Der Vater ist krank und mager von der Arbeit und der Sorge um seinen Sohn. Die kleine Maria ißt nicht mehr. Sie versteht nicht, warum ihre Mutter und der kleine Bruder immer weg gehen. Sie ist vier Jahre alt und spricht noch nicht. Es war auch keine leichte Geburt.
Sabine erkennt Ungerechtigkeit sofort und reagiert mit aller Kraft. Wenn die Mutter sie vom Boden hebt, wo sie doch gerade so nett mit der Ameise spielt, wird sie wütend, hüpft, kreischt und haut dem Vater, der das Pech hat, daneben zu stehen, eins auf die Nase. Von Gesundheitssystemen und sozialen Klassen weiß sie nichts. Brasilien kennt sie nicht. Noch nicht. Nächstes Jahr wird sie ins Land ihres Vaters ziehen, um dort mit ihren Eltern und Verwandten im Wald zu leben. Dann wird sie auch ihren Cousin kennenlernen. Wenn es nicht zu spät ist.
Julia Pereira Dias
Die Namen wurden zum Schutz der beteiligten Personen geändert.
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